Bruder Johannes

In diesen Tagen verstarb Johannes Rau. Er sitzt in einem Café in Barcelona und seine Gedanken kreisen um ihn. Gestern hatte er dem Büro seines spanischen Partners einen Besuch abgestattet. Sie bauen ein europäisches Jugendnetzwerk auf und planen für dieses Jahr gemeinsame Projekte. Im Büro traf er den Freiwilligen Moritz aus Deutschland, er leistet seinen Zivildienst in der Partnerorganisation ab. Moritz kommt aus Wuppertal. Er hat Johannes Rau gekannt. Er besuchte gemeinsam die Schule mit einer Tochter von Johannes Rau.
In seinem letzten Interview, das Johannes Rau einer Zeitung gab, sagte er auf die Frage, welche Kenntnisse er in seinem Leben und nach seiner Krankheit hinzugewonnen habe, dass er nun ahne, was der Ausdruck „auf Herz und Nieren prüfen“ im biblischen Sinne bedeute.
„Bruder Johannes“ war bekannt für seine Menschlichkeit, seine Wärme, seine Liebe zu den Menschen. Er bemühte sich, all seine Post persönlich zu beantworten und in Gesprächen die Menschen aller Gesellschaftsschichten einzubeziehen, sie ernst zu nehmen in ihren persönlichen Anliegen. Seinen religiösen Hintergrund leugnete er nie, er prägte sein Tun. Er war über den christlichen Glauben und seine Kirchengemeinde zur Politik gekommen. Er wechselte in jungen Jahren mit seinem Ziehvater Gustav Heinemann, seinem Vorgänger im Bundespräsidentenamt, dessen Enkelin er später heiratete, die Partei und schloss sich den Sozialdemokraten an. Diese entsprachen zwar nicht seinem eher bürgerlichen Habitus, doch als soziale Demokraten entsprachen sie seinem christlichen Grundverständnis.

Johannes Rau beeinflusste ihn in seinem Wirken nie sonderlich, doch hatte er einige Begegnungen mit ihm, die ihm dauerhaft in Erinnerung blieben. Er war geprägt durch sein dörfliches Aufwachsen in streng katholischem Umfeld. Als interessierter Jugendlicher bemerkte er schnell die Widersprüche zwischen den Ansprüchen, die Familie, Schule, Kirche und Gemeinde an ihn stellten und dem ihren Ansprüchen nicht gerecht werdenden eigenem Tun. Doch glaubte er an die Auflösung dieser Widersprüche und eine positive Entwicklung, wenn er in diese Lebenskreise eingreife und mit Mut und Freude zu deren Entwicklung beitrüge.
So engagierte er sich früh in Vereinen und in der Kirche seines Dorfes. Schon mit 16 Jahren gehörte er, delegiert durch den Kolping, dem Kirchenvorstand an. Er gründete eine Jugendinitiative, die Jugendliche zum partizipativen Handeln in der Gemeinde animierte. Dieses „teilhabende Handeln“ führte zu Widerständen und zu Konflikten mit den herrschenden konservativen Kräften seines Dorfes.
Es gab in seinem Dorf nur eine Partei, die Christdemokraten, deren Funktionäre ihn gemeinsam mit den von ihnen beeinflussten kirchlichen Kreisen aufs Heftigste bekämpften. So gründete er mit 17 Jahren, mehr als Gegenmaßnahme als aus Überzeugung, einen SPD-Ortsverein. Nach der Gemeindereform verschmolz dieser mit dem Ortsverein des Nachbarortes, der als Folge der Gebietsreform mit seinem Dorf zusammengelegt wurde.
Juso-Funktionäre ermunterten ihn, in diesem Ortsverein eine Juso-AG zu gründen. Er aber wollte gestalten. So strebte er schon früh den Ortsvereinsvorsitz und die Mitgliedschaft im Unterbezirksvorstand an. Dieses Ziel erreichte er bereits mit 20 Jahren. Wenig später war er Mitglied im Gemeindeparlament und übernahm den Vorsitz seiner Fraktion im Gemeinderat.
Es muss wohl in dieser Zeit seiner ersten politischen Gehversuche gewesen sein – er will sich nicht auf das Jahr festlegen – in den Jahren, als Willy Brandt trotz oder wegen seiner Ostpolitik die Kanzlerschaft erneut errang – als er Johannes Rau zum ersten Mal begegnete. In einer Nachbargemeinde hatten die Jungsozialisten traditionell ein großes Pfingstcamp errichtet, er war mit von der Partie.
Er trug die Haare lang. Wegen der großen Hitze lief er mit bloßem Oberkörper im Lager herum. Johannes Rau, der damalige Wissenschaftsminister von Nordrhein- Westfalen im Kabinett von Heinz Kühn, hatte sich angesagt. Das war die Gelegenheit für ihn und die Jungsozialisten gegen das Atomzwischenlager Ahaus zu opponieren. Viele Menschen waren gegen die Weiterentwicklung der Nuklearenergie, den Bau von Atomkraftwerken und somit gegen die Errichtung des Zwischenlagers in Ahaus und der Urananreicherungsanlage in Gronau.
Er fuhr einen VW-Käfer mit einem großen Aufkleber „Atomkraft – Nein Danke!“ Im Unterbezirksvorstand stritten die Genossen heftig und er hatte mitbekommen, dass insbesondere der Repräsentant der Ahauser SPD und der Bürgermeister von Gronau vehement für ihre Standorte warben, da sie sich wirtschaftlichen Aufschwung in ihrer von der Textilkrise gebeutelten Region erhofften, während eine Mehrheit des Vorstandes sich eher skeptisch und ablehnend gegenüber Zwischenlager und Urananreicherungsanlage zeigte.
Die Landesregierung wollte das Zwischenlager und der Landtagsabgeordnete im Kreis Borken wusste dem UB-Vorstand zu berichten, natürlich streng vertraulich, dass die Landesregierung der Stadt Ahaus 20 Millionen Wirtschaftshilfe zugesagt habe, sollte sich der Stadtrat für die Errichtung des Zwischenlagers aussprechen.
Es war ein herrlicher Pfingsttag und im Jusopfingstcamp hatte sich die gesamte SPD-Prominenz des Kreises versammelt, um Johannes Rau zu begrüßen und zu hören.
Johannes sprach in gewohnt anrührender und mitreißender Weise. Man jubelte und applaudierte. Rau sprach sich gegen den Missbrauch der Atomkraft aus, sah Gefahren, wollte „versöhnen statt spalten“, aber die Notwendigkeit eines Zwischenlagers sah er auch, da die Abfälle ja nun einmal da seien und irgendwie gelagert werden müssten. Man müsse natürlich sorgsam prüfen, die Menschen „mitnehmen“ und Risiken ausschalten. Solle sich herausstellen, dass der Standort nicht geeignet sei, dürfe ein Zwischenlager in Ahaus nicht errichtet werden.
Da meldete er sich zu Wort, wollte nicht länger an sich halten. Was er denn, Johannes, dazu sage, dass der Stadt Ahaus von der Landesregierung bereits 20 Millionen zugesagt seien, falls sie der Errichtung eines Zwischenlagers zustimme. Da könne doch von einer neutralen, nur dem Gewissen verpflichtenden Entscheidung nicht mehr die Rede sein.
Da wendete sich „Bruder Johannes“ ihm in seiner unnachahmlichen Art zu. Solche Behauptungen stelle man hier nicht in der Öffentlichkeit ungeprüft auf. Da müsse er wohl was falsch verstanden haben. Seine Äußerungen nehme er ihm aber nicht übel. Er sei ja noch sehr jung. Er würde sich politisch sicher noch entwickeln, aus ihm könne vielleicht etwas werden, aber bis dahin müsse er noch viel lernen.
Er war schockiert. Wie konnte Johannes so sprechen. Wusste er nicht, was längst vereinbart war oder unterlag auch er, wie fast alle Politiker, der „Macht des Faktischen“ und taktierte. Er wollte widersprechen. Er sah das hilflose, rot angelaufene Gesicht des Landtagsabgeordneten,
der ihm durch einen Rippenstoß bedeutete zu schweigen, ihn nicht zu outen, sah in das väterliche Gesicht von Johannes Rau und schwieg. Er wollte den Landtagsabgeordneten nicht beschädigen und auch nicht Johannes Rau, auch nicht sich selbst, denn sie würden behaupten, und Johannes Rau behauptete es ja bereits, er habe das wohl nicht alles richtig verstanden im UB-Vorstand, natürlich ginge alles ganz „rechtsstaatlich“ zu. Die Menschen würden ihm nicht glauben, dem halbnackten langhaarigen Revoluzzer, sondern dem Minister, der Glaubwürdigkeit ausstrahlte und den Staat repräsentierte. So beugte er sich und schwieg. Er hatte schon viel gelernt

Diese Leseprobe stammt aus „An den Ufern eines Flusses“